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3. Grundlagen der Somatic- Experiencing Methode

Das von Dr. Peter A. Levine entwickelte Modell zur Überwindung und Integration traumatischer Ereignisse beruht auf Verhaltensbeobachtungen in der Tierwelt (naturalistischer Ansatz). Seine Forschungen begannen im Rahmen seiner Tätigkeit als Stressforscher und Berater der Astronauten bei der NASA (Entwicklung des Space Shuttles) und seiner klinischen Arbeit mit traumatisierten Veteranen des Vietnamkrieges. Er orientierte sich daran, wie Tiere in der freien Wildbahn ihren Stress verarbeiten.

Tiere in der freien Wildbahn sind häufig lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt (Jäger-Beute-Verhalten).

Dabei haben sie instinktiv vier Optionen:

  • Kampf-Reflex
  • Flucht-Reflex
  • Totstell-Reflex
  • Schutz der Herde aufsuchen

Sie verfügen über angeborene Mechanismen, durch die sie ihre hohe im Überlebenskampf mobilisierte Stress-Energie (Aktivierung) wieder abbauen. Wir Menschen sind im Stammhirn („Reptiliengehirn“) von Mutter Natur mit den gleichen Regulationsmechanismen ausgestattet. Das menschliche Gehirn ist aber wesentlich komplexer aufgebaut: Gefühls-Hirn und Denkhirn kommen dazu.

Die Funktionsfähigkeit der Instinktmechanismen kann u.a. durch den „rationalen“ Teil des Gehirn gehemmt oder außer Kraft gesetzt werden. Das kann dazu führen, dass die im Alarmzustand bereit gestellte Überlebensenergie vom vegetativen Nervensystem nur unvollständig oder verzögert abgebaut wird. Dauerhafte Alarmbereitschaft („Hyperarousal“) erschwert dem Gehirn, neue Eindrücke gut zu bewerten. Das Nervensystem mit seinem Stresshormonsystem ist hochgefahren („Gaspedal“), wird aber gleichzeitig gebremst. Als ob man die Luft anhält, aber gleichzeitig einatmen möchte.

Wir bleiben im Überlebensmodus hängen.

Der Organismus reagiert weiterhin auf die Bedrohung in der Vergangenheit (im Damals und Dort).
Die in der Gegenwart (im Hier und Jetzt) erlebten Reaktionsweisen, Verhaltensmuster, Überzeugungen, Gedanken, Gefühle und Empfindungen sind noch mit den Schrecknissen der Vergangenheit gekoppelt.

Die traumatische Energie ist noch im Nervensystem gebunden. Es war zu viel, zu schnell, zu plötzlich (Überaktivierung). Bei erfolgreichem Kampf oder Flucht baut sich diese Energie im Körper wieder ab. Fällt unser Organismus jedoch in Erstarrung (Totstell-Reflex, „Freeze“, innere Zwangsjacke) und bleibt dort über längere Zeit stecken, kann es zu späteren Beeinträchtigungen führen:

Die mangelnde oder gar nicht erfolgte Entladung (De-Aktivierung) der geballten Energiemenge blockiert die Funktion unseres Nervensystems. Das Nervensystem hat seine volle Flexibilität (Resilienz, s. u.) verloren.

„Somatic Experiencing und die wilden Tiere“

(Quelle: Interessengemeinschaft – Somatic Experiencing, Schweiz)
„Peter A. Levine beobachtete, dass Tiere in freier Wildbahn oft in Momenten höchster Gefahr – zum Beispiel Gazellen, kurz bevor sie von einer Raubkatze getötet werden – in einen Totstellreflex fallen.

Dabei bricht die Gazelle auf der Flucht wie ohnmächtig zusammen. Dies ist die Folge der bereits erwähnten Energieblockade im vegetativen Nervensystem. Es ist einerseits ein Schutz des Tieres vor Überlastung seines Nervensystems – Todesangst und Schmerz werden nicht mehr wahrgenommen -, andererseits kommt es vor, dass die Gazelle dadurch den Angriff überlebt, weil Raubkatzen in der Regel tote Tiere nicht fressen.

In diesem Fall erwacht die Gazelle nach ein paar Minuten, steht auf und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Danach kommt das Tier wieder zur Ruhe und rennt davon, unbelastet durch das Ereignis.

Wird das Tier jedoch beim Zittern gestört und bleibt ein Teil der Energieblockade bestehen, erleidet auch das Tier ein Trauma. Folgen sind z.B. dauernde Angst, Anspannung, Unruhe und Verlust der sozialen Bindung zu den anderen Herdenmitgliedern.

Wenn beim Menschen diese Entladung nicht vollständig abläuft, entstehen Beschwerden wie beim Tier, das während des Zitterns gestört wird. Nach einem Geschehen, wie z.B. einem Verkehrsunfall, gewähren wir dem Organismus oft nicht genug Schutz, Ruhe und Zeit, um sich zu entladen. In diesem Fall braucht es gewisse Hilfestellungen und Methoden um der Person zu helfen, sich aus dem traumatischen Zustand herauszubewegen. Peter A. Levine hat wesentliche Prinzipien erforscht, wie ein Trauma verarbeitet und aufgelöst werden kann, und diese Erkenntnisse in die Methode des Somatic Experiencing umgesetzt.

Dem Körper und seinem Nervensystem werden Hilfen angeboten, Festgefahrenes und Unvollendetes wieder der natürlichen Selbstregulation zuzuführen.“

Zum Begriff der Resilienz

Resilienz ist ein Kernbegriff der modernen Traumaforschung. Resilienz ist die Flexibilität und Widerstandsfähigkeit des Nervensystems. Gemeint ist die Fähigkeit, sich nach Schwierigkeiten wieder zu „berappeln“. Die Fähigkeit, unvorhergesehene Schlüsselsituationen und Turbulenzen zu meistern und gestärkt daraus hervorzugehen. Die innere Stärke und strapazierfähige Verfasstheit der Seele. Das lateinische Wort resiliare bedeutet: abprallen, zurückspringen.

Ein starker Baum biegt sich im Sturm, aber er bricht nicht.

In der Werkstoff-Physik bedeutet Resilienz die Eigenschaft elastischen Materials wie z.B. Gummi, nach Momenten extremer Spannung unversehrt zurückzuspringen (Elastizität / Biegsamkeit). Im Rahmen der Traumatherapie ist es das Ziel, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, die Resilienz des Nervensystems aus der Einengung wieder auf 100% zu bringen. Statt in permanenter innerer Alarmbereitschaft, Wut (= unterbrochener Kampfreflex), Angstattacken (= unterbrochener Fluchtreflex) oder Erstarrungsphänomenen zu verharren wieder in einen Zustand der Entspannung und des Wohlbefindens zurückzufinden.

Zitate von Dr. P. Levine:

„Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Erlebnisse hat dieses seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden.“

„ Trauma ist wahrscheinlich die am meisten ignorierte, bagatellisierte, missverstandene und unbehandelte Ursache für menschliches Leiden. Obwohl es die Ursache ungeheurer Not und Fehlfunktion ist, ist es im klassischen Sinn kein Leiden oder eine Krankheit, sondern aus meiner Sicht das Nebenprodukt eines unwillkürlich ausgelösten veränderten Bewusstseinszustandes. In diesen aussergewöhnlichen Zustand  – nennen wir ihn „Überlebensmodus“- geraten wir, wenn wir bemerken, dass unser Leben bedroht wird.

Wenn wir die Bedrohung als überwältigend erlebt haben und uns nicht erfolgreich verteidigen konnten, springt ein „Überlebensmodus“ an, aus dem wir unter bestimmten Umständen nicht wieder von selbst herauskommen. Dieser dem Überlebensmodus entsprechende hohe Erregungszustand wurde ursprünglich entwickelt, um kurzfristig Abwehr- und Schutzmechanismen einzuleiten.

Werden diese nicht aus- oder zu Ende geführt, führt dieser Zustand früher oder später zu Symptomen des Traumas – es sei denn, man behandelt diese.“

„Solche Symptome können jeden Bereich unseres Alltags beeinträchtigen, und sind mächtig genug, unser individuelles Bezugssystem im Hinblick auf unsere kulturelle, wirtschaftliche, politische, religiöse und geistige Ausrichtung stark zu verändern.“

„Vielleicht der entscheidende Aspekt bei traumatischen Ereignissen ist, dass Menschen und insbesondere Kinder von Alltäglichem überwältigt werden können. Bis vor nicht allzu langer Zeit war unser Verständnis von Trauma auf die Erfahrungen von traumatisierten Soldaten und Opfern katastrophaler Ereignisse, Unfälle und Verletzungen begrenzt.

Diese Betrachtung wird dem Phänomen Trauma nicht gerecht.

Eine Serie kleinerer Unglücke kann auf Dauer die gleiche schädliche Wirkung auf eine Person haben, wie zum Beispiel Krieg oder Vergewaltigung. In diesem Sinne haben die meisten von uns Trauma direkt oder indirekt erfahren.“

 

Die Polyvagaltheorie von Stephen Porges und die Charakter-Typologien (Wilhelm Reich, Alexander Lowen, NARM) haben uns weitere Möglichkeiten eröffnet, frühkindliche Entwicklungstraumata zu behandeln.

 

„Unsere Fähigkeit, einander zu vernichten, entspricht unserer Fähigkeit, einander zu heilen.“              (Bessel van der Kolk)

 

Literatur:

Vom Trauma befreien
Peter A. Levine
ISBN: 978-3-466-30760-9

Trauma-Heilung
Das Erwachen des Tigers
Peter A. Levine
Synthesis Verlag
ISBN: 3-922026-91-5

Verwundete Kinderseelen heilen
Peter A. Levine
Kösel Verlag
ISBN: 3-466-30684-1

Crash-Kurs Zur Selbsthilfe nach Verkehrsunfällen
D.P.+ L.S. Heller
Synthesis Verlag
ISBN: 978-3-922026-38-9

Sprache ohne Worte
Peter A. Levine
Kösel-Verlag
ISBN 978-3-466-30918-4

Verkörperter Schrecken
Bessel van der Kolk
G.P. Probst Verlag
ISBN 978-3-944476-13-1

Narben der Gewalt
Judith L. Herman
Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden
Junfermann Verlag

Stark wie ein Phönix
Michaela Haas
O.W. Barth Verlag
ISBN 978-3-426-29240-2

Die Polyvagaltheorie
Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung
Stephen Porges

The Impact of Attachment
Susan Hart
Norton Verlag

Neuroaffektive Meditation
Meditation im Dialog mit Neurobiologie und Entwicklungsbiologie
Marianne Bentzen
Probst Verlag